14.SCHULDGEFÜHLE WEGEN EIGENER PRIVILEGIEN ABBAUEN

image Gutes, das wir für uns selbst sichern, ist so lange gefährdet und unsicher, bis es für uns alle gesichert und in unser gemeinsames Leben integriert ist.«

Jane Addams

image Wenn du hierhergekommen bist, um mir zu helfen, dann verschwendest du deine Zeit, aber wenn du gekommen bist, weil deine Befreiung mit meiner verbunden ist, dann lass uns zusammenarbeiten.«

Lilla Watson

DIE OBIGEN BEIDEN ZITATE BILDEN eine elegante, sich ergänzende Kombination. Sie demonstrieren zwei Wahrheiten, die zwangsläufig miteinander einhergehen. Wie Jane Addams, die »Patin der Sozialarbeit«, zu Recht feststellt, müssen wir dafür sorgen, dass alle an dem Guten teilhaben, das wir so sehr genießen. Tun wir das nicht, könnte es beispielsweise dazu kommen, dass wir selbst am Ende auf der Empfängerseite des systembedingten Missbrauchs enden. Schon allein die Tatsache, dass Armut und Krieg existieren, bedeutet, dass wir selbst nie wirklich sicher vor solchen Bedrohungen sind.

Dennoch kann diese Arbeit nicht vertikal – also mit dem Gefühl »Ich hier oben werde euch da unten helfen« – getan werden. Solche hierarchischen Setzungen, und seien sie nur gedanklich, untergraben die Leitwerte der Gleichheit und Gerechtigkeit – so die Sichtweise der indigenen Murri-Künstlerin LILLA WATSON: Trotz der Kluft zwischen unserer privilegierten Ebene und der Ebene anderer müssen wir anerkennen, dass unser Kampf ineinandergreift, dass es ein vereinter Kampf ist. Es ist eine horizontale Situation, in der »Helfende« und »diejenigen, denen geholfen wird« auf derselben Ebene existieren, auch wenn sie unterschiedliche Rollen spielen. Wir müssen erkennen, dass die Existenz von Ungerechtigkeit nicht nur bedeutet, dass niemand sicher ist, sondern sich außerdem noch unmittelbarer auswirkt.

Privilegien sind auch für die Privilegierten zerstörerisch. Sie trüben unseren Blick, sodass wir die wahre Situation nicht mehr sehen. Privilegien verleiten uns dazu, dass wir uns auf eine bestimmte Weise an Sicherheiten klammern, die unser Einfühlungsvermögen verhärten lassen. Eine solch künstliche, komfortable Situation schwächt den kreativen Funken und den natürlichen Altruismus des Herzens. Der Überfluss, den wir entsprechend unserer Konditionierung als wesentlich betrachten, schnürt der Welt die Luft ab und beutet ihre Ressourcen aus. Mit jedem Schlafwandlerschritt beteiligen wir uns stillschweigend an korrupten, mörderischen Situationen, so lange, bis wir aufwachen und daran arbeiten, sie rückgängig zu machen. Und wenn du an das Karma-Gesetz glaubst – nun ja: Wie sehr wir an dieser Situation beteiligt sind, das ist schon eine große Sache.

SCHULDGEFÜHLE AUFGRUND VON PRIVILEGIEN gehören zum vertikalen Paradigma, und doch können offensichtlich sehr viele von uns nicht daran rütteln. Es ist eine innere Haltung, die im Gegensatz zu ihren eigenen guten Absichten steht, wie eine Schlange, die in ihren eigenen Schwanz beißt. In meiner Therapiepraxis höre ich im Zusammenhang mit Schuldgefühlen wegen Privilegien gewöhnlich drei Narrative:

1. Wie kann ich die guten Dinge und Situationen in meinem Leben annehmen, wenn andere leiden? Es fühlt sich falsch an, mich darüber zu freuen. Ich sollte mich doch schuldig fühlen, weil ich diese unverdienten Vorteile habe.

2. Wie kann ich den Luxus rechtfertigen, mit meinen Neurosen zu arbeiten und meine eigenen Traumata zu heilen, wenn es anderen schlechter geht? Ich sollte meinen eigenen Kram zurückstellen und weitermachen.

3. Dass ich es so gut habe, bedeutet, ich muss mich bis zum Gehtnichtmehr abrackern, um anderen zu helfen. Ich verdiene keine Erholung. (Dieser dritte Punkt ist subtiler und manchmal nur in den Einstellungen und Verhaltensweisen der Leute zu beobachten, nicht in dem, was sie berichten, aber ich sehe es bei vielen Menschen – auch bei mir selbst).

IM FOLGENDEN WERDE ICH auf jedes dieser Narrative genauer eingehen, aber gestatte mir zunächst eine direkte Bemerkung: Schuldgefühle wegen Privilegien zu haben, das ist, als würdest du mit den Armen Schwimmbewegungen machen, während du in einer wenige Zentimeter tiefen Pfütze ertrinkst. Es ändert nichts an der Situation – weder für dich noch für andere. Steh einfach auf.

Es ist komisch: Schuldgefühle wegen Privilegien beginnen mit dem Bewusstsein, dass andere leiden, und enden damit, dass wir uns auf uns selbst fixieren. Sie sind eine Falle. Eine Falle, getarnt als eine wenige Zentimeter tiefe Pfütze. Darum atme jetzt, da du aufgestanden bist, einmal schön tief in den Bauch hinein, und hör bitte zu, wenn ich es ein letztes Mal sage: Wir brauchen dich. Wir brauchen dich ganz. Wir können nicht zulassen, dass du mit dem Gesicht nach unten in einer Pfütze aus Schuldgefühlen herumliegst. Darum hier nun ein Handtuch, mit dem du dir das Gesicht abtrocknen kannst.

VOM ZUG DER SCHAM ABSPRINGEN

SCHULDGEFÜHLE SIND IM WESENTLICHEN Reue gemischt mit Scham. Betrachten wir diese beiden Begriffe einmal näher. So wie ich Reue hier auffasse, ist sie etwas Gutes. Reue ist wesentlich für ein integres Herz. Reue ist das, was wir empfinden, wenn wir uns entgegen unseren eigenen Werten und erklärten Absichten verhalten oder fahrlässig Schaden anrichten. Reue sieht, dass das Geschehene wirklich nicht hinnehmbar ist, dass wir es wiedergutmachen und unser Bestes tun müssen, damit es sich nicht wiederholt. Reue ist unangenehm, und das zu Recht; unser fest in unserem System verankerter Wunsch, sie zu vermeiden, trägt dazu bei, dass unser Leben und unsere Gemeinschaft funktionieren und gedeihen.

Die Reue sagt: »Das ist nicht in Ordnung.« Scham hingegen sagt: »Ich bin nicht in Ordnung.« Scham suggeriert, dass etwas nicht Hinnehmbares passiert ist, weil mit uns grundsätzlich etwas nicht stimmt und wir deshalb außerstande sind, uns sinnvoll damit auseinanderzusetzen oder eine Wiederholung zu vermeiden. Scham birgt die Auffassung in sich, dass etwas an uns bis ins Mark verdorben ist, etwas, das sich Ausdruck verschaffen wird, egal wie sehr wir versuchen, es besser zu machen. Wenn wir glauben, dass etwas mit uns grundsätzlich nicht stimmt, können und werden diejenigen Teile von uns, die Scham empfinden, in allem, was wir denken, sagen oder tun, Beweise für unsere Unzulänglichkeit finden. (Weitere Informationen darüber, warum das so ist, findest du in der Diskussion über die Macht der unbewussten Voreingenommenheit, die nach Bestätigung sucht, ab Seite 141). Als Menschen »enthalten wir Vielheiten«, aber die Scham versucht, all unsere Teile über einen Kamm zu scheren.

Nachdem wir den Unterschied zwischen Reue und Scham herausgearbeitet haben, sind wir nun besser in der Lage zu verstehen, warum die Mischung aus beidem – Schuldgefühle – so oft mit Privilegien in Verbindung gebracht wird. Beginnen wir mit der ersten Hälfte der Gleichung, nennen wir es Reue wegen Privilegien.

Wir leben in einer Welt, die auf verschiedenste unfaire Weise von tiefer Ungleichheit geprägt ist. Eine solche Ungleichheit herrscht zwischen der sogenannten ersten und dritten Welt, zwischen Ländern, Regionen, Staaten, Städten und Wohnvierteln, Familien und Individuen, Ethnien, Männern und Frauen, Spezies und immer so weiter. Ich möchte hier nur ein konkretes Beispiel nennen: den Hunger und die Unterernährung der Menschen. Im Jahr 2016, so schätzte die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, litten mehr als zehn Prozent der Weltbevölkerung an chronischer Unterernährung.9 Das Budget des Verteidigungs- und Kriegsministeriums der Vereinigten Staaten für 2019 betrug 686,1 Milliarden Dollar. Ungefähr ein Zwanzigstel dieses Geldes könnte die ganze Welt ein Jahr lang ernähren.10 Und Gelder aus dem US-Verteidigungshaushalt zu verwenden wäre noch nicht einmal nötig, wenn Nahrung nur gerecht verteilt würde, denn weltweit produzieren wir genügend Nahrungsmittel, um jährlich zehn Milliarden Menschen11 in einer Welt mit 7,7 Milliarden Einwohnern zu ernähren.12

Wenn du zu denen gehörst, die durch die bestehende Ungleichheit von unverdienter Macht oder Ressourcen profitieren, und du das Gefühl hast, das ließe sich nicht mit deinen Werten in Einklang bringen, dann ist es durchaus vernünftig, dass du vielleicht Reue wegen deiner Privilegien empfindest. Und hier die gute Nachricht: Reue kannst du in Taten übersetzen. In diesem Augenblick kannst eine Petition für Veränderungen unterzeichnen oder etwas Geld für wohltätige Zwecke spenden. Oder du kannst noch weiter gehen (ich hoffe, dass du das tust) und dich ehrenamtlich engagieren, eine gemeinnützige Organisation gründen oder für ein politisches Amt kandidieren. Wenn einige deiner Privilegien untrennbar mit deiner Berufslaufbahn verbunden sind und du daran etwas verändern möchtest, könntest du den Arbeitsplatz wechseln. Ich sage nicht, dass du den Kapitalismus im Alleingang revolutionieren oder den globalen Sexismus beenden sollst. Ich sage nur: Wenn du von bestimmten unverdienten Privilegien profitierst, dann nimm die Reue und nutze sie für etwas, das bei den Mechanismen der Privilegien ansetzt.

Im Gegensatz dazu ist Privilegienscham nicht so gut praktisch umsetzbar. Besser gesagt: Du kannst zwar für den Rest deines Lebens danach handeln, aber das wird nie auch nur das Geringste an der Scham selbst ändern, da sie eher eine recht stabile Formation unserer Identität als ein vorübergehendes Gefühl ist. Sie wird wahrscheinlich auch all deine Bemühungen, anderen zu helfen, negativ beeinflussen, da die Menschen, denen du helfen willst (oder diejenigen, die gemeinsam mit dir zu helfen versuchen), das verborgene Motiv in dem, was du tust, spüren. Scham vertieft die Kluft, die wir oft zwischen uns und anderen spüren. Reue würdigt die uns innewohnende Verbindung.

Schuldgefühle aufgrund von Privilegien sind nichts anderes als Selbsthass, der wie ein Schild bei einer Demonstration hochgehalten wird. Und Selbsthass ist eine Form des Narzissmus, mit der wir uns die Begründung dafür schaffen, warum wir uns weiterhin auf uns selbst konzentrieren. Den Privilegierten unter uns hilft Selbsthass, der harten Arbeit aus dem Weg zu gehen,, in uns die verschiedenen Arten, wie wir eine sehr kranke Gesellschaft verinnerlicht haben, auszuräumen. Das ist eine raffinierte Art und Weise, die Veränderungen zu vermeiden, die wir vornehmen müssen, um mit uns selbst und den Menschen um uns herum ins Reine zu kommen. In gewisser Weise haben jene Anteile von uns, die sich vor dem Problem in seinem ganzen Ausmaß fürchten, den Eindruck, es sei weniger leidvoll, in einer Pfütze herumzuzappeln, als sich der Situation ehrlich zu stellen.

SCHULDGEFÜHLE WEGEN PRIVILEGIEN sind eine gute Informationsquelle. Sie sagen dir etwas sehr Wichtiges – wenngleich es unmöglich ist, diese wichtige Botschaft zu erkennen, solange Reue und Scham weiterhin miteinander verschmolzen sind. Scham abzuschütteln bedeutet dann wahrscheinlich auch, sich mehr der Reue zuzuwenden. In der Neurose der Schuldgefühle aufgrund von Privilegien liegt eine Saat der Weisheit: jener Keim der Reue, der uns sagt: Ja, wir sollten etwas tun. Wir sollten mehr tun.

Wenn dir das alles eine Nummer zu groß erscheint – als sei das Bekämpfen von Ungerechtigkeit vom Gefühl her so, als wolle man mit dem Besen gegen einen Waldbrand antreten –, dann ist hier ein Weg, das zu überwinden: Richte dein Leben ganz auf Mitgefühl aus. Mach es zu deinem Lebensstil. Lebe, um zu geben – zu lieben und zu dienen. Wenn der Gedanke, dass du ein bestimmtes Ergebnis dafür brauchst, dir die Motivation raubt, dann bitte diesen Teil von dir, einmal beiseitezutreten. Tu etwas Mitfühlendes um seiner selbst willen. Tu es aus Freude daran, in Übereinstimmung mit deinen höchsten Werten zu leben.

Du könntest sogar in Erwägung ziehen, mitfühlendes Handeln zu deinem Vollzeitjob zu machen. Steht deine Arbeit wirklich im Einklang mit deinen Werten? Was für ein Gefühl ist es, zu überlegen, wie sich deine Arbeit auf die Welt auswirkt? Welche Auswirkungen hat dein Unternehmen oder deine Organisation auf die Welt? Hat Mitgefühl an deinem Arbeitsplatz ein Zuhause? Bist du bislang in Bezug auf einen beruflichen Wechsel unentschlossen gewesen, wie zwischen zwei Stühlen? Vielleicht ist es an der Zeit, aufzustehen und dich für etwas – irgendetwas – anderes zu entscheiden, für etwas, das wirklich etwas bewirkt.

Ich kann dir gar nicht sagen, welch ein Segen es ist, durch meine Arbeit zur Heilung und zum persönlichen Wachstum anderer beizutragen. Es rettet mich jeden Tag. Es hält mich in Kontakt mit dem Puls des Mitgefühls tief in meinem Inneren, der aber so leicht von Eigeninteresse überdeckt wird. Mit Menschen zusammenzusitzen, denen es schlecht geht, ist zwar schwierig, aber es ist auch eine große Freude, wenn ich weiß, dass ich etwas bewirke. Kein High auf dieser Erde reicht daran heran. Zeuge zu werden, wie sich durch mitfühlende Bemühungen nach und nach etwas verändert, ist mehr wert als Gold. Es ist mehr wert als Sicherheit. Es ist jedes Opfer wert. Lass dir das von jemandem gesagt sein, der vor anderthalb Jahrzehnten, nachdem er gerade endgültig vom Heroin losgekommen war, mit 400 Dollar, einer Couch zum Schlafen und ohne Ausbildung anfing – und jetzt absolut begeistert ist, täglich zu helfen und dabei auf Augenhöhe mit seinen Mitmenschen zu sein.

Solltest du mitten in all dem deine wahre Leidenschaft finden, kann dich nichts und niemand mehr aufhalten, davon bin ich aufrichtig überzeugt. Dann wirst du dich mit der Präsenz in dir in Einklang bringen, die voller überzeugter Zuversicht ist, dass du wie JANE ADDAMS, DOROTHY DAY, ELEANOR ROOSEVELT, JAMES BALDWIN, CAESAR CHAVEZ oder GRETA THUNBERG werden kannst – Menschen, die in der Lage waren, globale Säulen der Vernunft zu schaffen und Institutionen zu begründen, die in großem Maßstab etwas bewirken.

NUTZE ES, UM ES ZU DURCHBRECHEN

NUN, DA WIR EINE WEILE in groben Zügen über Schuldgefühle aufgrund von Privilegien nachgedacht haben, lass uns noch einmal zu den drei Narrativen zurückkehren, die ich zu Beginn dieses Kapitels erwähnt habe.

1. Wie kann ich die guten Dinge und Situationen in meinem Leben annehmen, wenn andere leiden? Es fühlt sich falsch an, mich darüber zu freuen. Offenbar soll ich mich schuldig fühlen, wenn ich mein Leben genieße.

BEDENKE: Die logische Antwort darauf, unverdiente Macht oder Ressourcen zu haben, besteht darin, sie zu nutzen, um denen zu helfen, die weniger davon haben. Wenn du merkst, dass du Reue empfindest, solltest du etwas unternehmen und dann sehen, wie sich das auf deine Gefühle auswirkt.

Falls du jedoch den Verdacht hast, dass deine Reue immer noch einen Rest Scham in sich birgt, hier eine Frage, die helfen kann: Was würde deiner Meinung nach ein Mensch, der mehr leidet als du, sagen, fühlen und tun, wenn er das hätte, was du hast? Während meiner Zeit als Sozialarbeiter habe ich Eltern und Jugendliche in einer zutiefst verworrenen, leidvollen Situation oft gefragt: »Was würdet ihr tun, wenn euch das alles nicht im Weg stünde?« (Also: wenn ihr aus all dem heraus könntet – aus der Armut, aus diesem System der Familienbetreuung, aus der Strafverfolgung, aus euren psychischen Problemen). Ihre Antworten lauteten immer etwa so: (A) Ich würde es genießen und (B) Ich würde meiner Familie und anderen helfen. Unser Glück zu genießen und die Energie zu nutzen, die uns das verleiht, um etwas gegen Ungerechtigkeit zu tun: Das ist ein Rezept für ein schönes Leben.

2. Wie kann ich den Luxus rechtfertigen, mit meinen Neurosen zu arbeiten und meine eigenen Traumata zu heilen, wenn es anderen schlechter geht? Ich sollte meinen eigenen Kram zurückstellen und weitermachen.

BEDENKE: Wenn wir unseren Schmerz und unsere generationsübergreifenden Traumata zurückstellen und wegdrängen, heißt das nicht, dass sie verschwinden. Mit dieser Einstellung erreichen wir nur, dass der Schmerz tief in unserem Nervensystem versenkt wird – von wo aus er zwangsläufig auf andere, heimtückischere Weise wieder auftaucht und sich durch negative Grundüberzeugungen und zwanghaftes Verhalten bemerkbar macht. Diesen Weg weiterzugehen schadet letztendlich anderen. Direkt oder indirekt haben wir es immer mit unseren Wunden und Abwehrreaktionsmustern zu tun. Wenn wir die mutige Arbeit tun, uns direkt unseren eigenen Schwierigkeiten zu stellen, dann dient das allen.

3.Dass ich es so gut habe, bedeutet, ich muss mich bis zum Gehtnichtmehr abrackern, um anderen zu helfen. Ich verdiene keine Erholung.

BEDENKE: Der Verlust von Empathie ist ein Anfangssymptom des Burn-out. Wenn es dir an Selbstmitgefühl und Rücksicht gegenüber dir selbst mangelt, führt das dazu, dass du auch anderen kein Mitgefühl und keine Rücksicht entgegenbringst. Weißt du, wie Sportler die Fähigkeit entwickeln, Außergewöhnliches zu leisten? Indem sie hart arbeiten und sich dann ausruhen und dann wieder hart arbeiten und sich dann ausruhen, ad infinitum. Harte Arbeit schafft die Voraussetzungen für Kraft, aber Muskeln und Geschicklichkeit wachsen nur in den Ruhe- und Schlafphasen. Das ist eine biologische Wahrheit und auch eine psychologische. Wir brauchen dich gesund, ausgeruht, mit ausreichenden Ressourcen und lebensfroh, denn wir brauchen deine Uneigennützigkeit und dein gutes Herz auf lange Sicht in diesem Spiel.

In Kapitel zehn habe ich darüber gesprochen, inwiefern die ungeheure Macht der Identität unsere Resilienz stärkt, selbst angesichts von Unmenschlichkeit. Stell dir doch einmal vor, du nimmst eine echte Change-Agent-Identität an und setzt dich aktiv für Erneuerung und für den Wandel ein. Du spendest also nicht nur für wohltätige Zwecke und unterschreibst Online-Petitionen, sondern setzt dich als Soldat*in der Bodentruppen für die Benachteiligten ein.

TEIL 4 | ÜBUNGEN

ÜBUNG 1 | Urteilsvermögen entwickeln

RUF DIR IN ERINNERUNG, WIE ES WAR, als du dich das letzte Mal in einem Konflikt oder in einer aggressiv aufgeladenen Situation befunden hast. Folge dem und lass den Film eine Weile in deinem Kopf ablaufen. Was wurde gesagt? Was hast du getan? Wie hast du dich dabei gefühlt? Wie hast du reagiert? Ist die Situation aufgrund deiner Reaktion in irgendeiner Weise eskaliert? Sei für einen Moment ganz ehrlich.

Nun stell dir dieselbe Situation noch einmal vor, diesmal aber so, dass du auf deine Weise der Nonne aus der Geschichte in Kapitel elf nacheiferst. Übe innezuhalten und atme dann einmal tief durch, während du allmählich erkennst, dass die Person, die auf dich losgegangen ist, in Wirklichkeit leidet und versucht, ihren Schmerz an dich weiterzugeben. Stell dir bildlich vor, wie du sie willkommen heißen könntest, während dir dabei gleichzeitig bewusst bleibt, dass das, was dich angreift, nicht zu dir gehört. Wie könntest du mit Gelassenheit oder gesunder Distanz reagieren? Mit Neugierde? Mit Empathie? Mit Humor?

Wiederhole jetzt dieses Szenario. Sieh dich selbst, wie du auf möglichst viele verschiedene Arten so handelst wie die Nonne. Nimm wahr, wie es sich anfühlt; spüre, wie es im Körper ist. Mach dir dieses Gefühl zu eigen. Verweile darin. Betone und intensiviere es ganz bewusst. Mach weiter und übertreibe es in jeder Hinsicht. Das wird helfen, es in deinem Nervensystem zu verankern. Verweile noch etwas länger darin. Die Befriedigung und Gelassenheit, die aus einem solch geschickten Vorgehen erwachsen, ist das wahre Geschenk in dieser Situation. Behalte es, es gehört dir.

Liebende Güte für all deine inneren Kinder | ÜBUNG 2

Übungszeit: ca. 20 Minuten

ATME EIN PAARMAL TIEF DURCH und bring dein Bewusstsein in den Körper. Denk nun, wie schon in der Übung aus Teil eins, »Selbstliebe für den Teil von dir, der es am meisten braucht«, an einen Moment in deiner Kindheit, in dem alles schön und angenehm war, auch wenn es nur eine seltene, vorübergehende Spielsituation oder ein kurzer Moment der Verbundenheit war (du kannst dir auch einfach vorstellen, wie du als Kind einmal in einem Glückszustand warst, selbst wenn du keine spezielle Erinnerung hast, mit der du arbeiten kannst). Ruf dir das Bild dieses Moments ins Gedächtnis. Betrachte dein Kindergesicht und die Augen. Hör dein Kind lachen. Sei ein bisschen neugierig und sieh, wie alt du ungefähr bist; nimm jegliches andere Detail wahr, das dir in den Sinn kommt, einschließlich Gedanken, Episoden, Körperempfindungen und Gefühle.

Stell dir dann vor, du gibst deinem Kind die Energie der positiven Zuwendung, die du in diesem Moment empfindest (Offenheit, Zuneigung, Ruhe, Mitgefühl). Gib ihm, wie zuvor, die guten Schwingungen, die du einem kleinen Kind, das in deiner Obhut gelassen wurde, entgegenbringen würdest. Schick dem Kind dann einige aufrichtige Wünsche für sein Wohlergehen. Sende ihm die Gedanken »Mögest du glücklich sein. Mögest du dich sicher fühlen. Mögest du dich frei fühlen.« Wiederhole das langsam einige Male und stell dir vor, wie die Energie dieser Worte das Kind erreicht und sein kleines Gesicht aufleuchten lässt. Du kannst die Worte mit dem Atem schicken, du kannst sie dir als einen Lichtstrahl vorstellen oder jegliche andere Vorstellung anwenden, die dir hilft, damit es gelingt.

Vielleicht spürst du anfangs gar nichts. Oder aber du spürst eine wie auch immer geartete dramatische Veränderung. So oder so, mach einfach weiter.

Für deine Kinder-Anteile werden wir exakt genauso weiter üben. Ich werde weniger Anweisungen geben, um dir mehr Raum zu lassen, zu üben und deiner Intuition zu folgen. Bitte lass dir Zeit.

Stell dir vor, du wärst vier oder fünf Jahre alt. Es ist in Ordnung, wenn du keine klaren Erinnerungen an dich in diesem oder einem anderen Alter hast, für das wir üben werden. Stell dir bestmöglich dein Gesicht, deine Augen, dein Lächeln vor. Erinnere dich daran, wie es damals war, in deinem Körper zu sein, wie es war, du zu sein.

Wenn du neugierig werden oder dem Kind eine gewisse Freundlichkeit entgegenbringen kannst, ist das großartig. Aber selbst wenn nicht: Stell dir vor, dass du es mit einem energetischen Feld der Güte umgibst, und sende ihm die Gedanken »Mögest du glücklich sein. Mögest du dich sicher fühlen. Mögest du dich frei fühlen«. Wiederhole diese Gedanken zumindest ein paarmal langsam und stell dir vor, wie die Energie dieser Worte das Kind erreicht und auf es einwirkt.

Atme ein paarmal mit dem ganzen Körper ein und lass dein fünfjähriges Ich los.

Stell dir vor, du wärst acht Jahre alt. Noch einmal: Sieh den Körper und das Gesicht des Kindes so klar wie möglich; spüre die Präsenz deines Kindes. Erinnere dich daran, wie sich dein Leben damals anfühlte: in der Schule, zu Hause, bei Freunden.

Umgib dein achtjähriges Ich mit mitfühlender Energie. Mach es realer, indem du die geistig-emotionalen Wünsche aussendest: »Mögest du glücklich sein. Mögest du dich sicher fühlen. Mögest du dich frei fühlen.« Wiederhole diese Wünsche mindestens ein paarmal langsam und spüre, wie sich die Belastungen des Kindes währenddessen verringern. Atme mit ihm. Verweile einige Minuten, wiederhole die Sätze und lass Raum für alles, was in dir hochkommt.

Atme einige Male mit dem ganzen Körper ein und aus. Halt inne und löse die Verschmelzung. Wenn du jetzt oder später eine kleine Pause machen musst, tu das bitte. Mach anschließend weiter.

Stell dir vor, du wärst zwölf Jahre alt. Sieh das Bild deines Ich im Vor-Teenageralter so klar wie möglich und spüre hinein. Erinnere dich daran, wie es war, in deinem zwölfjährigen Körper zu sein, in deinem Leben zu sein in einer Zeit, wenn viele von uns ihre einzigartige Identität formen und tiefere Bindungen mit Freund*innen entwickeln.

Umgib dein zwölfjähriges Ich mit derselben mitfühlenden Energie. Sende wieder die Wünsche »Mögest du glücklich sein. Mögest du dich sicher fühlen. Mögest du dich frei fühlen«. Mach einige Minuten weiter und lass Raum für alles, was heilen muss.

Wiederhole den Vorgang für dein sechzehnjähriges Ich – sieh und spüre, wie du und dein Leben in dieser Zeit des schnellen Wachstums und der Veränderungen waren. Lass alle Gefühle, die da sind, aufkommen (aber nicht so weit, dass du von ihnen überwältigt wirst), und halte sie im Raum des Mitgefühls. Dann wünsche noch einmal von Herzen: »Mögest du glücklich sein. Mögest du dich sicher fühlen. Mögest du dich frei fühlen.«

Wiederhole das Ganze anschließend für dein zwanzigjähriges Ich.

Und dann für jedes andere Alter, zu dem du nach vorn oder zurückspringen willst.

Nimm dir Zeit, um aus der Übung herauszukommen. Atme dreimal tiefdurch, so tief wie jegliches der Gefühle, die da sind, und umgib diese Gefühle mit dem Atem.

Nimm dir einen letzten Moment Zeit, um zu überlegen, wer in deinem Leben etwas Heilung gebrauchen könnte. Widme dieser Person deine Bemühungen. Wünsche ihr, dass sie mit dir zusammen Glück, Sicherheit und Freiheit finden möge.